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Foto: Jacques Steiwer


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Jacques Steiwer

Niederfeulen

Pseudonyme: Bidasse ; ES. ER. ; J.S. ; J.St. ; Mordicus

Nach Sekundarstudien am Lycée classique de Diekirch studierte Jacques Steiwer von 1958 bis 1963 Philosophie und Literatur in Luxemburg und Paris. Er war an der Sorbonne Schüler u.a. von Paul Ricœur und hörte am Collège de France Vorlesungen von Maurice Merleau-Ponty. Von 1960 bis 1962 absolvierte er am Pariser neuropsychiatrischen Krankenhaus Sainte-Anne ein Praktikum. Es folgte das Referendariat im Schuldienst, im Jahr 1962-63 an Pariser Gymnasien, u.a. am Lycée Louis-le-Grand, im Jahr 1963-64 sodann am Lycée de garçons in Luxemburg. Nach dem obligatorischen Militärdienst 1964-65 wurde Jacques Steiwer Philosophielehrer am Lycée de garçons in Esch/Alzette, bis er 1968 an die Europaschule in Brüssel-Uccle wechselte. Von 1993 bis 1999 leitete er die Europaschule in Varese (Italien) und von 1999 bis 2004 die Europaschule in Brüssel-Ixelles. Jacques Steiwer war in den 1960er Jahren politisch engagiert und von 1965 bis 1968 Herausgeber von La Voix, der Zeitschrift der linksliberalen Studentenvereinigung AGEL/ASSOSS. Zwischen 1974 und 1976 war er Sekretär der Association internationale des professeurs de philosophie. Eine Freundschaft verband ihn mit dem marxistischen Ökonomen Ernest Mandel, der ab den 1970er Jahren in Brüssel lehrte.

Ab 1965 veröffentlichte Jacques Steiwer in La Voix, Le Phare und in anderen Zeitschriften und Sammelbänden Beiträge zur Politik, zur Philosophie und zur Pädagogik, z.B. Le fascisme, une philosophie im Almanach culturel (1968) und La démocratie en question in den Actes de la Section des sciences morales et politiques des Institut grand-ducal (vol. XI, 2008). Er war überdies Mitherausgeber des Bandes Una scuola per l’Europa (Mailand 1998) über die Europaschule in Varese.

Seit 2008 veröffentlicht Jacques Steiwer in französischen und belgischen Verlagen eine Reihe von Abhandlungen zu Themen der politischen Theorie und der Philosophie. Seine philosophischen Bezugspunkte sind dabei früh der Marxismus und Sigmund Freud, in den neueren Werken auch die Pragmatiker und Sprachanalytiker C.S. Peirce, J.L. Austin, John Searle, sowie Jürgen Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns, vor allem aber Niklas Luhmann, vor dessen systemtheoretischen Hintergrund er den dialektischen Materialismus neu beleuchtet.

Ein wichtiges Thema seiner Bücher auf dem Gebiet der politischen Theorie ist eine sich zugleich kritisch und konstruktiv verstehende Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen und den politischen Unzulänglichkeiten des europäischen Einigungsprojekts. So stellt De la démocratie en Europe (Paris 2008), dessen Titel an Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique anspielt, eine Analyse der Demokratiedefizite in Europa dar und fordert eine Rückbesinnung auf den Begriff der Utopie und die Werte der Aufklärung. In dessen Folge unterzieht der Essay L’Union européenne, une maison bâtie sur le sable. Critique historique (2021) im historischen Aufriss die europäischen Institutionen und die Logik ihrer Entwicklung einer kritischen Prüfung, die in Vorschläge zu einer grundsätzlich umgestalteten Europäischen Union mündet. Als deren drei Pfeiler sieht Steiwer die politische Philosophie des demokratischen Sozialismus, die Neuordnung grundlegender Institutionen im Hinblick auf eine vertiefte Form der Demokratie sowie eine von amerikanischer Vormundschaft befreite, eigenständige internationale Rolle der Europäischen Union. Aufgegriffen wird die Europa-Thematik auch in dem Vortrag „Patrie, Nation, État souverain“, den Jacques Steiwer 2017 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Les jeudis de l’Harmattan“ in Paris gehalten hat und der im Band L’Europe. Histoire et philosophie (Paris 2018) veröffentlicht wurde.

Daneben hat Jacques Steiwer auf anderen Gebieten der Philosophie gearbeitet. Une morale sans Dieu (Paris 2011) stellt Grundlagen einer nicht-theistischen Ethik auf. Vers une théorie de la connaissance systémique (2010) skizziert Grundzüge einer systemphilosophischen Erkenntnistheorie, auf deren Grundlage Les Méandres de la raison impure (Paris 2013) den Stellenwert des Irrationalen bei der Konstitution des menschlichen Bewusstseins analysiert. In Une brève histoire de l’esprit (Paris 2014) untersucht Jacques Steiwer die historische Entwicklung des Begriffs des Geistes von der Antike bis zu den Neurowissenschaften und skizziert auf dieser Grundlage eine auf einem systemischen Zugang beruhende Neufassung wichtiger Begriffe der Philosophie, wie z.B. ‚Geist‘, ‚Seele‘ oder ‚Vernunft‘. Der philosophische Essay La Dialectique à l’épreuve du XXIe siècle (Brüssel 2018) macht Vorschläge zur Überwindung einer Anschauung, die in der derzeitigen Wirtschafts- und Gesellschaftsform einen alternativlosen Endpunkt der Geschichte sieht. Dem wird eine Rückbesinnung auf den marxistischen Begriff der Dialektik gegenübergestellt, der vom Autor im Licht der Systemtheorie neu ausgedeutet wird. Dieser erlaubt es, einem als apathisch und zynisch dargestellten Zeitgeist die Vorstellung eines dauernden historischen Wandels und einer immer wieder möglichen Überschreitung des jeweils gegebenen gesellschaftlichen Horizonts entgegen zu setzen. Vérité et mensonge à l'âge du numérique (Brüssel 2023) analysiert den politisch-ideologischen Diskurs der Gegenwart mit seinen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen vor einem philosophischen Hintergrund und zeigt Kriterien der Wahrheitsfindung auf.

Jacques Steiwer verfasste sechs Romane, in denen der philosophische Hintergrund des Autors deutlich wird. In Mort d’un Nietzschéen versucht der Protagonist, ein in Luxemburg tätiger schwedischer Europabeamter und promovierter Philosoph, eine Frau in ein sexuelles Dominanzverhältnis zu bringen, das in ihre Tötung münden soll. Anhand der Geschichte wird der geistige Habitus einer auf Friedrich Nietzsche zurückgehenden, sich aber auch an den Schriften des Marquis de Sade orientierenden Philosophie des absoluten Machtstrebens erforscht. Ein auktorialer Erzähler, der sich direkt an den Leser wendet, führt diesen durch die Handlung und fordert ihn auf, sich ein eigenes Urteil zu bilden.

Ist Mort d’un Nietzschéen ein philosophischer Roman mit Anklängen an den Kriminalroman, so sind die folgenden Werke Kriminalromane, die philosophische und politische Fragestellungen durchziehen. Prägend für Steiwers Konzeption des Kriminalromans ist, neben dem Einfluss von Exponenten der ‚hardboiled detective novel‘ wie etwa Raymond Chandler und James Ellroy, die Studie Delightful Murder. A Social History of the Crime Story (1984) von Ernest Mandel. Dieser betrachtet die Gattungsentwicklung des Kriminalromans in ihrer Wechselwirkung mit der Geschichte des realen Verbrechens, die er als Prozess einer zunehmend systemischen Verflechtung von Staat, Wirtschaft und organisierter Kriminalität sieht. Seine eigene Poetik legt Steiwer in dem Gespräch À la recherche de la vérité, en quelque sorte de la vérité non voilée (2018) und im Essay Pourquoi écrire ? (2020) dar.

Die Ermittlungen in Steiwers Kriminalromanen, die sich durch den rekurrenten Titelbestandteil „… chez les Luxos“ zu einer Reihe fügen, werden von der Figur des luxemburgischen Kriminalkommissars Moulinart geleitet. Im Verlauf der Bände agiert dieser aufgrund seiner zunehmenden beruflichen Kaltstellung und seinem anschließenden Eintritt in den Ruhestand immer weniger als Polizist und immer mehr als einfacher Bürger. Er ist ein Antiheld mit Schwächen, der auf oft unkonventionelle Weise Wahrheiten aufdeckt. Dabei ergeben sich Einblicke in übergeordnete Gesellschaftsstrukturen und ihre kriminellen Auswüchse, die die Handlungen der Einzelindividuen bestimmen und ihre Existenz zerstören. Die Drahtzieher und Hintermänner als die wirklich Schuldigen bleiben dagegen unbeschadet.

In dem in Luxemburg, den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und an der Côte d’Azur angesiedelten Kriminalroman Du gâchis chez les Luxos (2012) führen Moulinarts Recherchen im Zusammenhang mit der Ermordung einer ukrainischen Prostituierten zu der Aufdeckung weltweit verzweigter krimineller Machenschaften, bei denen Menschenhandel, Großkriminalität, islamistischer Terrorismus, Handel mit radioaktivem Material und unsaubere Geschäfte Luxemburger Finanzinstitute aufeinandertreffen. Am Ende des Romans wird der für die geheimdienstlichen und politischen Hierarchien unbequeme Moulinart aus dem Polizeidienst entfernt und zum Chef des Protokolls und des Sicherheitsdienstes des Großherzogs befördert. In dieser Eigenschaft ermittelt er auch in Steiwers zweitem Kriminalroman, Angelika chez les Luxos (2014). Seine parallel zur Polizei angestellten, inoffiziellen Nachforschungen im Fall einer auf dem Jagdgrundstück des Großherzogs aufgefundenen, anonymen Frauenleiche decken politisch-ökonomische Interessenverflechtungen auf, bei denen sich reaktionäre Kreise in Politik und Kirche mit dem Drogen- und Prostitutionsmilieu vermengen. Die Recherchen im dritten Roman der Reihe, Des taupes chez les Luxos (2016), gehen vom Fund der Überreste eines im Jahr 1986 verschwundenen jungen luxemburgischen Soldaten aus. Sie führen Moulinart, der mittlerweile im Ruhestand ist und als einfacher Bürger agiert, immer tiefer in die Aufdeckung krimineller Machenschaften, Allianzen und Strukturen im Zusammenhang mit der sogenannten Bombenlegeraffäre, einer Reihe von Attentaten, die Luxemburg in der Mitte der 1980er Jahre erschütterte, und mit dem Kalten Krieg, in dessen Kontext die Anschläge gestellt werden. In Des camés chez les Luxos (2019) schließlich, in dessen Mittelpunkt der Kampf zweier Drogenhändlerringe um die Vorherrschaft auf dem belgisch-luxemburgischen Markt steht, ermittelt Moulinart im Drogenmilieu und deckt dessen Verflechtungen mit Akteuren der politisch-ökonomischen Sphäre auf. Der Roman erschien 2020 in albanischer Übersetzung.

Monsieur se fâche avec son ordinateur (2021) ist eine philosophische Fabel, die den Weg eines an existentialistischem Ennui leidenden Protagonisten zu Freiheit, Erkenntnis und Lebensbejahung schildert. Am Beispiel von dessen parallelen Beziehungen mit mehreren Frauen in der Folge einer Kontaktanzeige im Internet werden Themen wie Eros und Thanatos, Sexualität und Liebe, Zwang und Freiheit verhandelt. Als philosophische Referenzen werden dabei, neben dem Existentialismus, etwa die antike griechische Philosophie, die Psychoanalyse oder auch Spinoza aufgerufen. In der Auseinandersetzung mit seinem Computer, dessen er sich fortschreitend entledigt, spiegelt sich die Auseinandersetzung des Protagonisten mit der rohen, wertfreien Faktizität der Welt. Über das Leitmotiv des Strebens nach wahrer Erkenntnis, etwa in Anspielungen auf Platons Höhlengleichnis oder das Lüften des Schleiers der Maya, schließt der Roman an Überlegungen des Autors in seinen poetologischen Texten an.

Im Jahr 2017 erschien die Sammlung von Kurztexten Alphabêtisier luxembourgeois. Dort wirft der Autor philosophisch getönte Blicke auf Politik, Gesellschaft, Kultur und Geschichte Luxemburgs. In Anlehnung an die Tradition des „bêtisier“, einer Sammlung von Torheiten oder Stilblüten, werden in alphabetischer Reihenfolge von A comme Abyssal und B comme Bourgeois über M comme Militaire bis hin zu Z comme Zazou, Zinzin, Zozo et Zizi unterschiedliche Themen in prägnanter Kürze satirisch-kritisch ausgeleuchtet.

Dieser Artikel wurde verfasst von Pierre Marson

Veröffentlichungen

Übersetzungen

Mitarbeit bei Zeitungen

  • Titel der Zeitschriften
    Phare (Le). Kulturelle Beilage - Point de vue culturel
    Verwendete Namen
    Jacques Steiwer
  • Titel der Zeitschriften
    Voix des Jeunes (La) (Voix (La))
    Verwendete Namen
    J.S.
    Mordicus
    Bidasse
    ES. ER.
    J.St.

Sekundärliteratur

Archiv

  • CNL L-0320
Zitiernachweis:
Marson, Pierre: Jacques Steiwer. Unter: , aktualisiert am 02.12.2024, zuletzt eingesehen am .